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MIT-SCIENCE-Lectures-zeit_49_2002_kocka

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E S S A Y

Wo liegst du, Europa?

Die Identit?t des Kontinents ist nicht eindeutig. Aber es gibt Kriterien, an denen man sie POLITIK ? erkennt

DRUCKVERSION ? Von Jürgen Kocka VERSENDEN ?

Man wei? aus der Geschichte, wie normal der Krieg als Geburtshelfer von Nationalstaaten

ist. Kaum einer der westlichen Nationalstaaten ist ohne Krieg entstanden. Der Kampf mit

anderen f?rderte die eigene Identit?t. Die Erinnerung an Blut, Sieg oder Niederlage, an

Triumphe und Katastrophen hat im kollektiven Ged?chtnis der Nationen immer eine zentrale

Rolle gespielt, oft mythisch überh?ht, in Denkm?lern verk?rpert, auch instrumentalisiert.

Das st?rkte den inneren Zusammenhalt, bis hin zur Bereitschaft der Einzelnen, für ihr Land,

falls n?tig, zu sterben. Kann sich eine europ?ische Identit?t, eine staats?hnliche

europ?ische Union ohne die Geburtshilfe des Krieges herausbilden – auf Dauer, stabil und

verankert nicht nur in den K?pfen, sondern auch in den Herzen der Europ?er?

Die kurze Antwort: Krieg und Kriegsgefahr haben bereits kr?ftig zur Herausbildung eines

europ?ischen Selbstverst?ndnisses, eines europ?ischen Zusammenhalts beigetragen. In der

Aggression der Kreuzzüge schloss sich die abendl?ndische Christenheit fester zusammen. In

der Abwehr der Türken bildete sich europ?ische Gemeinsamkeit und ergaben sich praktische

Gelegenheiten, den Begriff …Europa“ zu verwenden und zu verbreiten. Durch die

Katastrophen des Ersten und des Zweiten Weltkriegs wurden die Europa-Idee und die

Europa-Bewegung beflügelt. Und in der ?ra des Kalten Kriegs hat die Wahrnehmung der

sowjetischen Gefahr den Zusammenschluss des westlichen Kleineuropas erleichtert.

Aber zwei entscheidende Einschr?nkungen sind am Platz. Erstens antworteten der Appell an

Europa, die Hoffnung auf Europa, die Betonung der europ?ischen Gemeinsamkeit meist nicht

auf die Erfahrung des Kriegs mit anderen, sondern auf das Leiden am Krieg innerhalb

Europas. Auf die blutigen Religionskriege und den Drei?igj?hrigen Krieg folgten

Beschw?rungen Europas als eines gemeinsamen Friedensraums. Nachdem LudwigXIV. und

Napoleon Europa mit Kriegen überzogen hatten, wurde im Gegenzug die Besinnung auf das

gemeinsame Europa st?rker. Auch die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts, die Schübe

des Europa-Bewusstseins und der Europabewegung ausl?sten, waren zun?chst und vor allem

innereurop?ische Kriege. In den folgenden Generationen hat die Furcht vor einer Wiederkehr

der blutigen Exzesse des Nationalismus dazu geführt, auf die Vereinigung Europas zu

setzen. Weniger der ?u?ere Feind als vielmehr die innere Zwietracht hat blutige

Geburtshelferdienste für Europa geleistet.

Zweitens sollte die Analogie zwischen Nationalstaatsbildung und europ?ischer Integration

nicht überstrapaziert werden. Die europ?ische Integration verl?uft in vieler Hinsicht

anders als die Konstituierung der Nationalstaaten. Sie ist etwas Neues, und historische

Parallelen zu ziehen führt deshalb rasch in die Irre. Insgesamt ist die Hoffnung berechtigt,

dass sich europ?ische Identit?t und europ?ische Union zukünftig ohne den gro?en ?u?eren

Feind vorantreiben lassen, ohne Krieg und ohne den Zusammensto? der Zivilisationen, vor

dem Huntington warnt.

Ohne Krieg wird es hoffentlich gehen, ohne Differenz und Differenzbestimmung aber nicht.

Europa-Bewusstsein bildete sich im Vergleich, im Selbstvergleich mit anderen heraus, durch

Betonung der Unterschiede zwischen Europa und den nichteurop?ischen Teilen der Welt. Es

lassen sich dabei verschiedene Typen der Argumentation unterscheiden: zum einen das Reden vom überlegenen Europa, das im 19. und 20. Jahrhundert verbreiteter war als heute, vor allem gegenüber Asien und Afrika. Dieses überlegenheitsgefühl wurde aber immer konterkariert durch h?ufige Selbstkritik von Europ?ern, die über andere Erdteile berichteten. Zum andern gab es die Rede vom bedrohten Europa, das sich mit der

überlegenheit eines anderen konfrontiert sah. Im 19. und 20. Jahrhundert betraf das vor allem die technische, wissenschaftliche oder kommerzielle übermacht Amerikas. Besonders interessant ist drittens das Reden von Europa als Ausgangspunkt universaler Modernisierung. Dabei sieht man Europa als Region, von der die Menschenrechte, die moderne Wissenschaft und manche andere neuzeitliche Errungenschaft ausgingen, die mittlerweile weltweite Geltung beanspruchen. Diese Art europ?ischen Selbstvergleichs muss nicht in

überheblichkeit enden, sondern kann zu Selbstbewusstsein mit Verantwortung und Augenma? führen. Für die Bildung und St?rkung europ?ischen Bewusstseins ist der Selbstvergleich zentral. Dass er m?glichst ohne Stereotype und Feindbilder gelingt, darum muss man sich bemühen.

Zwei Referenzregionen sind heute wie früher zentral: die islamische Welt und das n?rdliche Amerika. Die ausgepr?gte Differenz zwischen Europa und der islamischen Welt ist

unübersehbar, erfahrbar und nicht wegzureden. Die Differenz zu Amerika ist subtiler, fragwürdiger und ungesicherter. Zur Befestigung europ?ischer Identit?t und gesamteurop?ischer Handlungsf?higkeit ist die Abgrenzung gegenüber Amerika jedoch unabdingbar, auch wenn in Bezug auf grunds?tzliche Werte übereinstimmung besteht. An relevanten amerikanisch-europ?ischen Unterschieden fehlt es keineswegs. Europa hat auf dem Weg zu seiner Einheit mit erheblich mehr eingeschliffener und institutionalisierter Vielfalt von Nationen und Traditionen zurechtzukommen. Anders als in Amerika ist der europ?ische Einigungsversuch durch die Erfahrung vorangehender Katastrophen gepr?gt. Er ist der Versuch, daraus zu lernen. Das Verh?ltnis von individueller Freiheit und Solidarit?t, von Konkurrenz und Wohlfahrt wird in Europa anders bestimmt als in den USA. Durch den Sozialstaat unterscheiden wir uns von den Amerikanern. Dessen gegenw?rtige Krise

gef?hrdet nicht nur Wachstum und Wohlstand, sondern auch das sich mühsam herausbildende europ?ische Selbstbewusstsein. Leider sieht es jedoch zurzeit nicht danach aus, dass der

n?tige Umbau des Sozialstaats gelingen wird.

Wenn Europa eine politische Union sein will, muss es Grenzen haben. Inklusion ist ohne Exklusion nicht zu haben, ohne ein Au?en kann es kein Innen geben. Giscard d’Estaings Vorentwurf eines Verfassungsvertrags spricht in Artikel 1 von der zu bildenden Union, (i)

allen europ?ischen Staaten … offen steht“. Er setzt also den Begriff …europ?isch“ voraus. Mustert man die Umschreibungen von …europ?isch“, wie sie in den letzten zwei Jahrhunderten vorgeschlagen worden sind, so gab und gibt es viel übereinstimmung. Einige Landstriche geh?ren ganz fraglos dazu, die Lombardei zum Beispiel oder Berlin. Es gibt Teile der Welt, die niemand je zu Europa gerechnet hat, Kirgisien zum Beispiel, oder seinerzeit das Ottomanische Reich. Die Zugeh?rigkeit anderer L?nder zu Europa blieb umstritten. Je nach Zeitpunkt und Blickpunkt finden sich wechselnde Zurechnungen, vor allem Russlands. Es gibt zahlreiche Argumente, mit denen die Gemeinsamkeit Europas begründet und seine Grenzen definiert werden. Tragf?hig sind vor allem zwei: erstens der Verweis auf die gemeinsame Kultur. Religion, Geschichte, Sitte, Recht, politische Kultur und

übereinstimmende Werte sind verbindende Elemente. Dabei dürfen natürlich die zahlreichen und tiefgreifenden kulturellen Unterschiede innerhalb Europas nicht übersehen werden. Zweitens erweist sich das Argument des verbindenden Kommunikationszusammenhangs als tragf?hig, also der Verweis auf den Austausch zwischen Herrschenden, Wissenschaftlern, Künstlern und Gebildeten, aber auch auf das Wandern der Handwerksgesellen, den Verkehr zwischen den Kaufleuten und den ?ffentlichen Austausch der politischen Argumente. Mit unterschiedlicher, aber insgesamt zunehmender Dichte verbanden solche Kommunikationen die Teile Europas miteinander, w?hrend sie zu den R?ndern hin ausdünnten.

Mit beiden Argumenten kommt man weit, wenn man den inneren Zusammenhang Europas

begründen will. Aber zu einer scharfen Grenzziehung im Osten Europas führen sie nicht. Jedes dieser Argumente hat überdies etwas Konstruktivistisches an sich. Sie beschreiben nicht nur Befunde, sie reflektieren auch Absichten und Entwürfe. Sie wechseln je nach Standort. Es geht um das Problem des mental mapping.

Die Autoren der zukünftigen Verfassung Europas k?nnen sich also nicht auf einen allgemein geteilten, ein für alle Mal festliegenden Begriff …europ?isch“ beziehen. Letztlich werden die Grenzen ein Produkt politischer Entscheidung sein, allerdings unter Beachtung der gegebenen Verh?ltnisse und orientiert an ausgewiesenen Kriterien.

Das Erste ist der Bezug auf die Werte der Union. Nur wer sie teilt, kann zu Europa im Sinne der Europ?ischen Union geh?ren, so argumentiert der Verfassungsvertrag zu Recht. Er nennt als Werte der Union: Menschenwürde, Grundrechte, Demokratie, Rechtsstaat, Toleranz und das V?lkerrecht. Aber dies sind universalistische Werte, die nicht nur für Europa gelten, sondern auch in anderen Teilen der Welt. Deshalb schaffen sie Abgrenzung nur hic et nunc, nicht aber auf Dauer und prinzipiell. Man kann nur sagen, und dies sagt man ja auch in den gegenw?rtigen Verhandlungen über den Beitritt neuer Mitglieder: Dieses Land erfüllt die Voraussetzungen der Zugeh?rigkeit derzeit nicht. Und das Land antwortet: noch nicht und bemüht sich um ihre Erfüllung in der Zukunft. Im Prinzip k?nnte Europa nach diesem Kriterium st?ndig wachsen und immer gr??ere Teile der Welt umfassen, sofern immer gr??ere Teile der Welt ihre Verh?ltnisse und Verhaltensweisen an den genannten Werten ausrichteten. So sehr das politisch zu wünschen w?re, so ungute Konsequenzen h?tte dies

für die Gestalt Europas, das dann prinzipiell grenzenlos w?re. Das Kriterium …Wertebezug“ reicht also nicht aus, um Grenzziehungen zu begründen.

Deshalb muss ein zweites Kriterium berücksichtigt werden: das der …demokratischen Handlungsf?higkeit“. Damit ein politisches Gebilde handlungsf?hig und zugleich demokratisch ist, braucht es einen gemeinsamen Fundus von innerer Kommunikation und relevanten Gemeinsamkeiten. Es darf nicht zu heterogen und muss in sich ausbalanciert sein. Manche sprechen vom n?tigen Vertrauen, das zwischen denen vorhanden sein muss, die im Gemeinwesen handeln; andere vom sozialen Kapital, wieder andere von politischer Kultur. All das geht über den Bezug auf universale Werte deutlich hinaus und hat viel mit gemeinsamer Kultur und gemeinsamer Geschichte zu tun. Würde man das beim Auf- und Ausbau Europas nicht beachten, würde man sich übernehmen. Man schüfe ein Gebilde, das bald wieder zerfallen müsste. Das europ?ische Projekt kann noch scheitern.

Was folgt daraus für die entstehende europ?ische Verfassung? Sie sollte keine ein für alle Mal feststehenden Grenzen ziehen, und sie darf die Grenzziehung nicht absolut setzen. Denn die Grenze ist immer auch ein Konstrukt, sie enth?lt immer ein Stück Abw?gung und Entscheidung. Prinzipiell muss ?nderung m?glich sein. Aber die Hürden für jede sp?tere Erweiterung sollten sehr hoch gelegt werden. Grenzver?nderungen in sp?teren Jahren und Jahrzehnten sollten an ein sehr hohes Quorum und an die Zustimmung der europ?ischen Bev?lkerung in einem Referendum gebunden werden, verknüpft mit dem Recht unterliegender Mitgliedsstaaten auszutreten. Fest steht: Jetzt und in absehbarer Zeit würde sich Europa übernehmen, wenn es L?nder wie die Türkei und Russland einbez?ge. Das muss rasch und eindeutig gesagt werden, statt dass, wie derzeit im Fall der Türkei, über einen Termin für den Beginn von Beitrittsverhandlungen nachgedacht wird.

Es geht nicht nur darum, wo die Grenze zu ziehen ist, sondern wie sie gestaltet wird. Europa hat immer von seiner Weltoffenheit gelebt, es darf und wird sich auch zukünftig nicht abschotten, es darf und wird keine Festung werden. Entsprechend werden die einschl?gigen Politikbereiche zu gestalten sein, die Zoll- und Au?enwirtschaftspolitik, die Einwanderungspolitik, die Au?en- und erst recht die Milit?rpolitik, denn Europa muss auch au?erhalb seiner Grenzen milit?risch handeln k?nnen.

Sehr zu begrü?en ist, dass Artikel 42 des jetzt vorgelegten Vorentwurfs Bestimmungen für m?glich erkl?rt, …die eine besondere Beziehung zwischen der Union und Nachbarstaaten festlegen“. Wie die besondere Beziehung zu den Nachbarstaaten auszugestalten ist, bleibt auszuhandeln und zu entscheiden. Der Verfassungsvertrag sollte in diesem Zusammenhang die M?glichkeit offen halten, dass Abgeordnete der Nachbarl?nder im Europ?ischen Parlament Gastrecht erhalten und umgekehrt europ?ische Parlamentarier in befreundeten

L?ndern hospitieren k?nnen. Denn was in Europa beschlossen wird, wirkt sich oft auf die Nachbarn aus, und das gilt auch in umgekehrter Richtung. Die Entwicklung besonderer Beziehungen zu Nachbarn, die dadurch der Union assoziiert werden, kann die Ablehnung ihrer vollen Mitgliedschaft in ihren psychologischen Wirkungen entsch?rfen und den Druck von

den Nachbarn nehmen, unbedingt beitreten zu wollen.

Der Abstufung nach au?en entsprechen Abstufungen im Innern der Union. Dass die Integration Europas, je nach unterschiedlicher F?higkeit und Neigung der einzelnen Mitglieder, eine Integration mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten werden muss und nicht homogen im Gleichschritt erfolgen kann, ist klar. Je weiter sich die Union ausdehnt, desto heterogener wird sie im Innern. Deshalb muss einzelnen Gruppen von Mitgliedsl?ndern die

M?glichkeit geboten werden, in bestimmten Politikbereichen, beispielsweise der Sozialpolitik, untereinander enger zu kooperieren als mit den anderen Mitgliedsstaaten. Entsprechende Instrumente kennen die EU-Vertr?ge schon heute, doch ihre Anwendung muss erleichtert und ihr Spektrum vergr??ert werden. Der Verfassungsvertrag sollte darauf hinwirken. Ansonsten droht die Gefahr politischer Unbeweglichkeit aufgrund gegenseitiger Blockaden in der gr??er gewordenen Union.

Betrachtet man die variablen Abstufungen im Innern und in den Au?enbeziehungen im Zusammenhang, ergibt sich daraus: Die Unterscheidung von innen und au?en kann nicht mehr

in Form einer schroffen Entgegensetzung getroffen werden. Den abgestuften Beziehungen zwischen den Mitgliedsnationen entspricht eine Gradualisierung der Grenze nach au?en.

Nicht nur ihr Verlauf, sondern auch, was sie praktisch bedeuten soll, unterliegt politischer Gestaltung.

(c) DIE ZEIT 49/2002 ZUM ARTIKELANFANG

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